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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Thanatopsychologie

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms

Die psychologische Vorstellung vom Tod (griech. thana-tos) bildet sich in der Kindheit erst schrittweise. Ein «reifes» Todeskonzept verfügt über Einsicht in die Irreversibilität (Endgültigkeit), Nonfunk-tionalität (Fehlen aller Lebenstätigkeit) und Universalität (der Tod trifft alle Lebewesen und ist grundsätzlich unvermeidlich). Bis zum Alter von fünf Jahren fassen Kinder den Tod als eine Art Schlaf auf («Warum graben wir die Omi jetzt nicht wieder aus?» fragt die Fünfjährige nach der Beerdigung) ; spätestens mit zehn Jahren wird der Tod von ihnen korrekt erfaßt. In der Untersuchung Sterbender hat sich herausgestellt, daß sie phasenweise gegen das nahende Ende ihres Lebens rebellieren, es nicht wahrhaben wollen oder darüber zornig sind, abgelöst von eher akzeptierenden oder ruhig-traurigen Perioden. Kompliziert wird die seelische Situation Sterbender heute vielfach dadurch, daß in den technisch durchorganisierten Kliniken für «aussichtslose Fälle» kein Platz ist. Medizinisches und Pflegepersonal reagieren nicht selten auf ihre Gegenwart mit Hilflosigkeit, Schuldgefühlen und latent aggressiven Stimmungen. Dem daraus resultierenden Verhalten der Distanzierung (seltene Besuche), Versachlichung (Instrumentendiagnostik) und Überaktivität (medizinische Eingriffe, welche die Lebensqualität eher verschlechtern) versucht man in speziellen «Sterbekliniken» oder Hospizen entgegenzuarbeiten. Die seelische Belastung ärztlicher und pflegerischer Berufsgruppen durch die Begegnung mit dem Tod kann in Super-vision bearbeitet werden.

Die Thanatopsychologie (auch: Psychothanatologie, Todespsychologie, Psychologie des Todes) hat jenes Erleben und Verhalten des Menschen zum Gegenstand, das einerseits durch das Wissen um die grundsätzliche Sterblichkeit aller Lebewesen einschließlich der eigenen Person und andererseits durch die aktuelle Begegnung mit Sterben und Tod anderer Menschen ausgelöst wird. Die Thanatopsychologie beschäftigt sich ferner mit dem Erleben und Verhalten des unheilbar Kranken und Sterbenden, seiner Angehörigen und seiner professionellen oder ehrenamtlichen Betreuer. Indem sie das Erleben und Verhalten von Hinterbliebenen einbezieht, ist auch Trauer(n) Gegenstand der Thanatopsychologie.

Die Thanatopsychologie macht sich Methoden, Konzepte und Erkenntnisse aus allen Gebieten der Psychologie zunutze, insbesondere aber aus der Persönlichkeitspsychologie, der Entwicklungspsychologie (der Lebensspanne), der Sozialpsychologie, der Klinischen Psychologie und der Gesundheitspsychologie. Mit Blick auf die Anwendungsfelder der Thanatopsychologie besteht eine besondere Nähe zur Medizinischen Psychologie.

Historische Entwicklung

Seit Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre des 20. Jh. hat die Thanatopsychologie in den USA einen lebhaften Aufschwung erfahren. Dies betrifft sowohl die Grundlagenforschung als auch ihre Anwendungsfelder und zeigt sich in der Etablierung von Fachzeitschriften sowie von wissenschaftlichen und berufsständischen Organisationen und Interessenvertretungen. Nicht nur in quantitativer, sondern vor allem in qualitativer Hinsicht hat sich der Kenntnisstand der Thanatopsychologie aufgrund dieser Entwicklung in den zurückliegenden beiden Dekaden erheblich verbessert. Im deutschsprachigen Raum hingegen wird die wissenschaftliche Thanatopsychologie kaum betrieben. Kennzeichnend ist hier, daß spärliche Bemühungen im Bereich der Grundlagenforschung isoliert neben zahlreicher werdenden praxisbezogenen Aktivitäten (Sterbebegleitung, Death Education) stehen, ohne daß die Praktiker die Erkenntnisse der Wissenschaftler angemessen berücksichtigen.

Theoriebildung

Zur Erklärung des Erlebens gegenüber Sterben und Tod im allgemeinen und der Angst vor Sterben und Tod im besonderen werden Theorien der Selbstverwirklichung, der Sinnfindung, der Verneinung und positiver Illusionen, Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung und nicht zuletzt Kellys Theorie der personalen Konstrukte herangezogen. Das umfangreichste empirische Befundmaterial (pro und contra) liegt für die Theorie der persönlichen Konstrukte sowie für die Terror-Management-Theorie vor. Versuche, allgemeine Theorien der Emotionsentstehung auf das Erleben gegenüber Sterben und Tod anzuwenden, wurden bisher kaum unternommen.

Forschungsmethoden und Untersuchungsverfahren

In der Thanatopsychologie dominieren Selbstberichtdaten. Seit geraumer Zeit liegen sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache mehrdimensionale Fragebogenverfahren zur Erfassung verschiedener Komponenten des Erlebens gegenüber Sterben und Tod (Bedrohung, Ängstlichkeit, Akzeptieren, andere Aspekte) vor. Ferner werden inhaltsanalytische Auswertungsskalen zur Codierung von Interviewmaterial verwendet. Nach dem Prinzip des Sematischen Differentials ist der Threat Index konstruiert, eine Variante dieses Verfahrens, der Death Attitude Repertory Test, besteht im Vergleich verschiedener Konzepte von Leben und Tod in Anlehnung an Kellys Role Construct Repertory Test (RGT).

Bei der Erforschung des Erlebens und Verhaltens unheilbar Kranker sowie bei der Effizienzkontrolle von Fortbildungsveranstaltungen werden die Möglichkeiten der Fremdbeurteilung (Verhaltensbeobachtung) zu wenig genutzt. Generell finden qualitative Methoden (z.B. Tagebücher) in der Thanatopsychologie kaum Verwendung.

Stand der Grundlagenforschung

1) Entwicklung des Todeskonzepts beim Kind. Am Todeskonzept von Kindern lassen sich die Komponenten bzw. Subkonzepte "Universalität", "Irreversibilität", "Nonfunktionalität" und "Kausalität" unterscheiden. Aus entwicklungspsychologischer Sicht stellt sich die Frage, ob jedes dieser Subkonzepte separat erworben wird und ob sich somit für den Erwerb aller vier Subkonzepte eine bestimmte Reihenfolge ergibt (sequentieller Erwerb) oder ob zwei, drei oder gar alle Subkonzepte innerhalb eines eng begrenzten Zeitraums erworben werden (gleichzeitiger Erwerb) (kognitive Entwicklung).

Es zeichnet sich ein gemischter Prozeß des Kenntniserwerbs ab, der sowohl aus einem sequentiellen als auch einem gleichzeitigen Erwerb besteht: Das Verständnis von Universalität wird als erstes erworben, das Verständnis von Irreversibilität und Nonfunktionalität wird später und nahezu gleichzeitig erworben. Empirische Befunde legen ferner ein Zwei-Stufen-Modell des Erwerbs des Todeskonzepts nahe: In der ersten Stufe (4-10 Jahre) wird ein sogenanntes prämodernes Todeskonzept erworben; in der zweiten Stufe ( über 10 Jahre) erfolgt die Entwicklung eines komplexeren "modernen" Todeskonzepts, das demjenigen des heutigen Erwachsenen entspricht.

Emotionale Aspekte wurden bei der Erforschung der Entwicklung des Todeskonzepts von Kindern bisher vernachlässigt.

2) Angst vor Sterben und Tod. Es handelt sich um Unbehagen, Unruhe, Nervosität etc. beim Gedanken an Sterben und Tod ohne akute Gefährdung des eigenen Lebens und insofern um Ängstlichkeit (Trait). Im Unterschied dazu bezeichnet Todesangst einen Zustand (State). Ängstlichkeit mit Blick auf die Todesthematik ist ein mehrdimensionales Konstrukt, dessen Komponenten freilich in Abhängigkeit von der A priori-Konzeption unterschiedlich ausfallen.

Es liegen zahlreiche Befunde aus Korrelationsstudien vor, in denen der Zusammenhang der verschiedenen Dimensionen der Angst vor Sterben und Tod mit biologischen, soziodemographischen und Persönlichkeitsmerkmalen (u.a. Neurotizismus, Depressivität, allgemeine bzw. unspezifische Ängstlichkeit, Kontrollüberzeugungen, Selbstwertgefühl, Lebenszufriedenheit, Religiosität) bestimmt wurde. Danach besteht eine mäßige inverse Beziehung zwischen Angst vor Sterben und Tod und solchen Persönlichkeitsmerkmalen, die "psychische Gesundheit" ausmachen.

3) Akzeptieren von Sterben und Tod. Auch dies ist ein mehrdimensionales Merkmal. Man unterscheidet zwischen neutralem Akzeptieren (Sterben und Tod werden als natürliche Bestandteile des Lebens gleichsam wertfrei anerkannt), annäherndem Akzeptieren (Glaube an ein erstrebenswertes Danach) und vermeidendem Akzeptieren (Flucht aus schwer erträglichen Lebensumständen). Eine weitere Differenzierung betrifft die Komponenten "Akzeptieren des eigenen Sterbens", "Akzeptieren des eigenen Todes", "Akzeptieren des Sterbens anderer", "Akzeptieren des Todes anderer". Es bestehen erhebliche Geschlechterunterschiede in den Korrelationen zwischen Akzeptieren von Sterben und Tod und diversen Persönlichkeitsmerkmalen, deren Ursache noch völlig unklar ist (Geschlechterforschung, Persönlichkeit).

4) Abwehr- und Bewältigungsstrategien. Grundsätzlich sind alle Strategien denkbar, die auch sonst bei einer (starken) Bedrohung der körperlichen Integrität und/oder des Selbstwertgefühls auftreten können. Eine spezifische Streßbewältigungsstrategie (Coping), die zur Reduktion der Angst vor Sterben und Tod beiträgt, läßt sich weder bei Männern noch bei Frauen, weder bei jungen noch bei alten Erwachsenen nachweisen. Aufgrund klinischer Beobachtung sind Verdrängung und Negation relativ gut belegt. Die experimentelle Untersuchung von Abwehrstrategien im Kontext von Sterben und Tod wird durch die Schwierigkeit behindert, unbewußte Vorgänge erfassen zu müssen.

5) Verlauf des Sterbeprozesses. Es gibt zahlreiche implizite, kaum aber explizite Definitionen des Sterbeprozesses aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht. Berücksichtigt man Kommunikationsprozesse und intrapsychische Anpassungsvorgänge, so kann "Sterben" sich über eine relativ lange Zeitspanne (z.B. ein Jahr) erstrecken, jedenfalls sehr viel länger dauern als in der traditionellen medizinisch-somatischen Sichtweise. Man geht davon aus, daß der Sterbeprozeß durch vier Gruppen von Faktoren beeinflußt wird: die körperliche, die psychische, die soziale und die spirituelle Dimension. Der Ablauf des Sterbeprozesses wurde sowohl mit Blick auf Erwachsene als auch mit Blick auf Kinder in verschiedenen Phasen-Modellen schematisch abgebildet, deren methodische und empirische Basis allerdings unzureichend ist. Die spärliche Befundlage bietet keine stichhaltigen Belege für eine lineare Abfolge bestimmter Phasen, sondern eher Hinweise auf einen zirkulären Verlauf, in dem bestimmte Formen der intrapsychischen Anpassung bzw. Bewältigung mehrfach wiederkehren können (Transpersonale Psychologie, Sterben).

6) Psychische Belastungen von Betreuern. Betreuer unterliegen sowohl inhaltlich unspezifischen Belastungen (u.a. Konflikte mit Kollegen, geringer Entscheidungsspielraum) als auch thematisch spezifischen Belastungen (z.B. Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, Kumulation von Verlusterfahrungen und Mißerfolgserlebnissen). Diese Gruppen von Belastungsfaktoren sind konfundiert. Sie führen zu Streß, der bei langer Dauer in Burnout übergehen kann. Dies gilt für professionelle Pflegekräfte in deutlich höherem Maße als für ehrenamtlich Betreuende. Erfahrungsberichte und teilnehmende Beobachtungen haben ergeben, daß Ärzte und Pflegepersonal im Umgang mit Sterbenden in hohem Maße Unsicherheit bis hin zu Hilflosigkeit, Insuffizienzgefühlen, Frustrationen und in deren Folge Aggressionen erleben. Im manifesten Verhalten gegenüber Moribunden herrschen Vermeidung und Distanzierung, Versachlichung und Hyperaktivität vor.

7) Trauer(n). Es handelt sich um die Gesamtheit der Reaktionen auf einen Verlust, die deutliche, jedoch meist vorübergehende Störungen des physischen, psychischen und sozialen Gleichgewichts mit sich bringen. Insofern ist Trauern ein Anpassungsprozeß, der bereits vor Eintreten des Verlusts beginnen kann (antizipatorisches Trauern). Der Verlust kann Personen, materielle Güter oder Ideale und Werte betreffen. Faktoren, welche die Art der Trauerreaktionen betreffen, sind beim Tod eines Menschen u.a. die Intensität und Qualität der Bindung, die Todesart (Unfall, Krankheit, Fremdtötung, Suizid), individuelle Bewältigungsstrategien sowie die Verfügbarkeit sozialer Unterstützung. Man unterscheidet normales bzw. unkompliziertes und kompliziertes Trauern (Verneinung des Verlusts, Aufrechterhaltung der inneren Beziehung zum Verstorbenen). Trauern wird zunehmend auch als Vorgang gesehen, der Einfluß auf den Gesundheitszustand insbesondere alter Menschen haben kann.

Anwendungsfelder

In der Praxis betätigt sich die Thanatopsychologie in der Sterbebegleitung, bei der Entwicklung und Durchführung von Unterrichtsveranstaltungen für den Umgang mit Schwerstkranken (Death Education) sowie in der Begleitung, Beratung und Therapie Trauernder. Noch wenig beachtet wurde bisher der Umgang mit Verstorbenen (insbesondere unmittelbar nach ihrem Tod) sowie die psychische Situation von Unfallhelfern und der Angehörigen von Katastrophenopfern. Generell besteht wenig Austausch zwischen Grundlagenforschung und Anwendungspraxis der Thanatopsychologie.

Literatur

Corr, C. A., Nabe, C. M. & Corr, D. M. (1997). Death and Dying. Life and Living. Pacific Grove, CA: Brooks/Cole (2nd Ed.).

Neimeyer, R. A. (Ed.) (1994). Death Anxiety Handbook. Research, Instrumentation, and Application. Washington, DC: Taylor & Francis.

Papadatou, D. & Papadatos, C. (Eds.) (1991). Children and Death. New York: Hemisphere Publishing Corporation.

Stroebe, M. S., Stroebe, W. & Hansson, R. O. (Eds.) (1993). Handbook of Bereavement. Theory, Research, and Intervention. Cambridge, MA: Cambridge University Press.

Wass, H. & Neimeyer, R. A. (Eds.) (1995). Dying: Facing the Facts. Washington, DC: Taylor & Francis (3rd Ed.).


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