Begriff und Ziele der Psychophysiologie
Psychophysiologie befaßt sich mit den Beziehungen zwischen psychischen Vorgängen (Verhalten und Bewußtseinsprozessen) und körperlichen Funktionen. Seit es vor etwa 150 Jahren möglich wurde, den Puls, die Atmung, die Elektrodermale Aktivität, später auch den Blutdruck, die elektrische Herzaktivität (Elektrokardiogramm, EKG) und Hirnaktivität (Elektroenzephalogramm, EEG) während einer Emotion oder einer kognitiven Leistung aufzuzeichnen, gilt diese "Polygraphie" physiologischer Veränderungen als typisch für diese Forschungsrichtung. . Es geht um den Zusammenhang (Korrelation) beider Seiten, wobei die Gleichberechtigung psychologischer und physiologischer Methoden (so Berger, der Entdecker des EEG) betont wurde.
Der Begriff Psychophysiologie wurde im Jahr 1822 von Nasse ungefähr im heutigen Sinn geprägt. Dagegen ist in der Neuropsychologie und in der vorwiegend tierexperimentell arbeitenden Physiologischen Psychologie häufiger eine primär von der Untersuchung der Hirnstrukturen ausgehende "reduktionistische" Orientierung zu erkennen, d.h. Wahrnehmung, Lernen, Sprache usw. werden auf die Tätigkeit bestimmter Hirnstrukturen zurückgeführt. In der psychoanalytisch beeinflußten Psychosomatik wird hingegen oft von psychischen (psychogenen) Ursachen körperlicher Krankheiten gesprochen.
Die Begriffsgeschichte dieser Biologischen Psychologie im Grenzgebiet verschiedener Disziplinen spiegelt die Auseinandersetzung wider, welche im 19. Jahrhundert zwischen "Psychikern" und "Somatikern" in der Psychologie und Psychiatrie geführt wurde und bis in die Gegenwart reicht. Es gibt verschiedene philosophische Auffassungen, ob Bewußtsein und Nerventätigkeit wechselseitig aufeinander einwirken können, ob es sich nur um zwei Seiten desselben psychophysischen Prozesses handelt, oder ob es zwei verschiedene, aber einander ergänzende Beschreibungen von Hirnfunktionen sind (Leib-Seele-Problem). Diese verschiedenen Perspektiven beeinflussen auch die Theorien und die Methoden der Wissenschaftler.
Zumindest in der Forschung handelt es sich heute um eine zusammenwachsende Neuro-Psychophysiologie mit überlappenden theoretischen Konzepten und austauschbaren Methoden, wobei in den Fragestellungen und Praxisfeldern sowie hinsichtlich Studium und Berufsbild (Psychologie bzw. Medizin) Unterschiede fortbestehen. Psychophysiologie kann als ein Teil der Neurowissenschaften gesehen werden und als eine der Grundlagendisziplinen für die Verhaltensmedizin/Verhaltenstherapie, für die Arbeits- und Organisationspsychologie u.a. Anwendungsfelder.
Beschreibungsebenen
Emotionen, Beanspruchung (Streß), Orientierungsreaktionen, Wachen und Schlafen sowie viele andere organismische Zustände und Zustandsänderungen können auf mehreren Ebenen bzw. in mehreren Systemen beschrieben werden: 1) als Prozesse des Bewußtsteins, Erlebens und körperlichen Befindens, welche der Selbstbeobachtung (Introspektion, Interozeption) zugänglich und sprachlich mitteilbar sind, 2) als Verhaltensmuster, die in Tätigkeiten, Bewegungen und mimischem Ausdruck objektiv beobachtet werden, und 3) als physiologische Veränderungen, die in vielen, wechselseitig aufeinander einwirkenden, Funktionssystemen zu messen sind. Im unmittelbaren Erleben, z.B. in einem starken Ärger über ein Ereignis oder in Zuständen der Angst scheinen diese Aspekte eine Einheit zu bilden. Die Forschung hat jedoch ergeben, daß es keine starren Zusammenhänge gibt, sondern Kopplungen und Entkopplungen von Komponenten. Ein intensives Angstgefühl ist also nicht regelmäßig von einem entsprechenden Angstverhalten (Vermeidungsverhalten) oder einer körperlich meßbaren vegetativ-endokrinen Angsterregung begleitet. Auffällige Abweichungen dieser Art haben ein zunehmendes Forschungsinteresse gefunden.
Forschungsgebiete
Das Gebiet der Psychophysiologie läßt sich nach den Themen der Grundlagenforschung, nach den Anwendungsfeldern oder nach den hauptsächlichen physiologischen Funktionssystemen gliedern. Zentrale Forschungsgebiete sind die Psychophysiologie der Emotionen, der Streßreaktion und anderer Erregungszustände, die zusammenfassend auch als Prozesse der Aktivierung bezeichnet werden. Auf der anderen Seite erfordern auch Entspannung, Erholung und Schlaf eine psychophysiologische Untersuchung. Die kognitive Psychophysiologie befaßt sich mit der Informationsverarbeitung bei sensorischer Stimulation und bei kognitiven Leistungen soweit sie indirekt durch psychophysiologische Methoden erfaßt werden kann. Die Wahrnehmung von Schmerz und von Körperfunktionen durch Interozeption wird im Hinblick auf die Entstehung körperlicher Beschwerden bei Funktionsstörungen untersucht. Die Frage nach psychophysiologischen Korrelaten bestimmter Persönlichkeitseigenschaften knüpft an die älteren Theorien über Konstitution und Temperament an. Psychophysiologische Emotions- (Streß-) Forschung und Persönlichkeitsforschung tragen zur Aufklärung der Entstehung psychosomatischer und psychiatrischer Krankheiten bei.
Die psychophysiologische Emotionsforschung hat sich seit den Anfängen der Psychophysiologie in den Laboratorien von Lange, Lehmann, Weber und Wundt mit der Suche nach physiologischen Unterschieden zwischen basalen Emotionen, wie Ärger, Angst, Freude usw., befaßt. Bisher konnten solche Muster, die im Erleben von Gefühlen und auch in der Mimik deutlich sind, nicht befriedigend nachgewiesen werden. Deshalb wurde der Begriff Aktivierung (Aktivation, Arousal) bevorzugt, um eine einheitliche, psychophysische Funktionsanregung des Organismus zu beschreiben.
Die Wahrnehmung von körperlichen Vorgängen (Interozeption), d.h. von normalen Funktionsänderungen, von Funktionsunregelmäßigkeiten und symptomatischen Funktionsstörungen, ist nur in sehr eingeschränkter Weise oder überhaupt nicht möglich. Nur wenige Personen können ihren Herzschlag wie standardisierte Tests zeigten zuverlässig erkennen. Körperwahrnehmungen sind vorwiegend von der Situation, von Ursachenzuschreibungen und Einstellungen beeinflußt; körperliche Beschwerden sind deshalb nur im Zusammenhang des Krankheitsverhaltens zu interpretieren.
Die Suche nach der biologischen Basis bestimmter Persönlichkeitseigenschaften bzw. des Temperaments begann schon in der Medizin der Antike mit der Lehre von den vier Körpersäften. Später wurden Korrelationen mit dem Körperbau, den Blutgruppen, bestimmten Hormonen, der zentralnervösen Erregbarkeit und der vegetativen Reaktivität behauptet. Zweifellos gibt es, außer der morphologischen Individualität des Körperbaus, auch eine relativ überdauernde biochemische und vegetativ-endokrine Individualität des Menschen, welche zusammen mit angeborenen Funktionsschwächen und Krankheitsdispositionen die Konstitution des Menschen bestimmt. Korrelationen zwischen solchen somatischen Konstitutionsmerkmalen und Merkmalen des psychischen Temperaments konnten jedoch bisher nicht zuverlässig nachgewiesen werden. Dennoch wird diese Forschung fortgesetzt aus der Überzeugung, daß Konstitution und Temperament eine gemeinsame Grundlage im Gehirn bzw. in der genetischen Ausstattung des Individuums haben müssen.
Anwendungsfelder
Ein hervorragendes Anwendungsgebiet ist die psychophysiologische Beschreibung von mentaler und emotionaler Beanspruchung und Überforderung (Streß) am Arbeitsplatz, um Arbeitsabläufe, Pausenregelung, Arbeitsgestaltung usw. verbessern zu können. Chronische Überforderung wird als Mitursache einiger Krankheiten, u.a. des Bluthochdrucks, angesehen und kann einen negativen Einfluß auf viele andere Krankheiten haben. Psychophysiologisch orientierte Untersuchungen und prospektive Studien (Längsschnittstudien) können zur Aufklärung der Entstehung solcher Krankheiten beitragen.
Von großer praktischer Bedeutung ist das ambulante Monitoring (Feldstudien), d.h. die regelmäßige Überwachung von Körperfunktionen und Symptomen im Alltag, um kritische Veränderungen bei Risikopatienten zu erfassen, die Dosierung von Medikamenten anzupassen und Behandlungsfortschritte zu erkennen. Hierfür werden kleine portable Meßwertspeicher verwendet. Das ambulante Monitoring des Elektrokardiogramms und des Blutdrucks sind heute Routinemethoden in der Medizin.
Im therapeutischen Bereich haben sich psychophysiologisch orientierte Entspannungstechniken, bei denen diese Übungen z.B. durch Rückmeldung der Atmung oder Muskelspannung unspezifisch unterstützt werden, bewährt. Dagegen hat sich die experimentelle Methodik des Biofeedback, d.h. die visuelle oder akustische Rückmeldung von Meßwerten der gestörten Funktion, um die Symptomreduktion, z.B. die Blutdrucksenkung, spezifisch zu "lernen", empirisch weniger bewährt als erwartet wurde.
Der Einsatz psychophysiologischer Methodik, um die Wirkung von Werbematerial zu prüfen oder um unwahre Aussagen zu erkennen (Lügendetektor), gehört zu den problematischen und umstrittenen Anwendungen.
Methoden
Als kortikale Psychophysiologie und peripher-physiologische Psychophysiologie werden zwei Bereiche der Psychophysiologie unterschieden. Kortikale Psychophysiologie bezieht sich auf die indirekt, d.h. äußerlich von Kopfelektroden abgeleitete elektro-magnetische Hirnaktivität (EEG), wobei zwischen der spontanen und der reaktiven Aktivität (evozierte Potentiale) zu unterscheiden ist. Das EEG erfaßt jedoch nur die elektrophysiologischen Veränderungen in den äußersten Zellschichten der Hirnrinde (Kortex) und diese Repräsentation ist wegen der individuell verschiedenen Struktur und Furchung des Kortex räumlich verzerrt. Deshalb wird versucht, durch eine große Anzahl von Ableitelektroden, durch räumliche Projektionen und Umrechnungen sowie durch Hinzunahme magnetischer Aktivität (sog. Magnetenzephalogramm MEG) und bildgebender Verfahren (u.a. funktionelle Magnetresonanz-Technik fMRI) zutreffendere Aussagen zu gewinnen.
Alle anderen, nicht am Gehirn, sondern an bestimmten Organen (sog. Effektorganen) gemessenen Funktionen werden als peripher bezeichnet. Diese Funktionen unterliegen zwar der zentralnervösen Kontrolle, repräsentieren jedoch auch die lokalen Bedingungen und Wechselwirkungen mit anderen Funktionssystemen und Umgebungsbedingungen. Dies gilt für die Augenbewegungen (Okulomotorik) ebenso wie für den Blutdruck oder die Sekretion der Hormone. Die Veränderungen, z.B. von Herz-Kreislauf-Funktionen, interessieren in diesem Zusammenhang nur als Indikatoren zentralnervöser Prozesse. Die "peripheren" vegetativen Reaktionen während einer Emotion oder einer motivierten Verhaltenssequenz sind wahrscheinlich die geeigneteren Hinweise auf die Aktivität in den Strukturen des limbischen Systems (Gehirn) als das aus größerer räumlicher Nähe abgeleitete Elektroenzephalogramm. Als große Funktionsbereiche sind das vegetativ-endokrine System, das mit dem Immunsystem zusammenhängt, und das motorische System zu nennen. Da in der Psychophysiologie im allgemeinen nur nicht-invasive ("unblutige") Methoden verwendet werden und klinisch-chemische bzw. biochemische Labormöglichkeiten selten vorhanden sind (Psychoneuroendokrinologie, Psychoneuroimmunologie), kann in der Regel nur eine sehr begrenzte Auswahl physiologischer Messungen für psychophysiologische Fragestellungen genutzt werden (s. Tab.).
Zusammenfassung und Perspektive
Die psychophysiologische Forschung hat, anders als erwartet, in vielen Bereichen eher einen Mangel an Zusammenhängen ergeben: zwischen Angstgefühl und Angsterregung, zwischen Körperwahrnehmung und meßbarer Funktionsveränderung, zwischen Beschwerden und klinischem Befund, zwischen der Selbstbeurteilung der emotionalen Labilität im Fragebogen und gemessener vegetativ-endokriner Reaktivität. Die subjektiven und sprachgebundenen Aussagen enthalten Selbstauskünfte und Selbstbeurteilungen, die vor allem in neokortikalen Strukturen des Gehirns ablaufen, und die vegetativ-endokrinen Messungen beziehen sich primär auf neurophysiologische Aktivierungsprozesse in limbischen und tieferliegenden Strukturen. Umsomehr ist es notwendig, bei vielen Fragestellungen der Forschung und Praxis, eine psychologisch-physiologische Doppelbetrachtung zu leisten, um einseitige Schlußfolgerungen zu vermeiden.
In vielen Forschungsgebieten haben sich Konzepte und Methoden der Psychophysiologie als wissenschaftlich fruchtbar erwiesen. Es gibt herausragende Anwendungsfelder in der Belastungs-Beanspruchungsforschung am Arbeitsplatz und in der psychophysiologisch orientierten Diagnostik, Therapie und Therapiekontrolle, wobei durch die Entwicklung des ambulanten Monitorings neue und ökologisch validere Untersuchungsansätze geschaffen wurden.
Literatur
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Schandry, R. (1998). Lehrbuch der Psychophysiologie, 2. Aufl.. Weinheim; Psychologie Verlags Union.
Stemmler, G. (1992). Differential Psychophysiology: Persons in Situations. Berlin: Springer.
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