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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Theater

Autor
Autor:
Irene Roubicek-Solms

entstand aus dem Wunsch, sich als ein anderer zu fühlen und darzustellen als in der Einordnung, in die man durch Anlage und Umwelt gestellt worden ist. Schon im Spiel der Kinder zeigt sich oft der Drang, eine Rolle zu spielen, die mehr und stärkere Gefühlserlebnisse bietet als die Wirklichkeit. Aber auch die Erwachsenen, die soviel stärker geprägt sind, brechen aus der Beengung aus, in die sie sich sonst finden müssen. Das geschieht zum Beispiel durch die Verkörperung vor-geprägter Rollen beim Kostümfest. Das Theater unterscheidet sich von solchen Spielen durch vorgegebene Formen und durch die Wechselbeziehung zwischen Spielern und ihrem Publikum. Doch noch immer wird eine neue, von den Menschen gewollte Wirklichkeit der gewöhnlichen Realität gegenübergestellt. Man beschwört, was man wünscht oder fürchtet. Auf frühester Kulturstufe ahmten Menschen die Naturvorgänge,. die feindlichen oder die jagdbaren Tiere und zwischenmenschliche Vorgänge nach in dem Glauben, sie auf diese Weise beeinflussen zu können. Diese Art der Magie lebte noch im Theater des alten Griechenland fort, das auf Fruchtbarkeitsfeiern zurückging, die Mysterien des Dionysos. Den Konflikt des Menschen zwischen Trieb und Kultur verdeutlichten die großen Tragödien, die Schicksale von Sagenhelden wie »Oedipus« nachzeichneten und so den Zuschauern ganz kraß eine Auseinandersetzung vorstellten, wie es sie mehr oder weniger versteckt auch in ihrem eigenen Leben gab. Das Miterleben der Geschehnisse auf der Bühne wirkte als Katharsis, als heilsames Abreagieren von Regungen, die sonst verdrängt sind, weil man ihnen im geordneten Leben nicht nachgeben darf. Das mittelalterliche Theater begann aufs neue mit kultischen Spielen, deren Mittelpunkt biblische Überlieferungen und Heiligenlegenden waren. Erst mit dem Wachsen der Städte entstand ein Theater etwa im heutigen Sinne. Im Werk seines ersten und zugleich größten Meisters William Shakespeare sind nahezu alle Möglichkeiten des Theaters enthalten, vom Tölpelspiel über die befreiende Heiterkeit bis zum unverstellten Realismus oder der philosophischen Auseinandersetzung. Hier spiegelt sich zugleich der ganze Bereich des Menschen, seine soziale Einordnung, seine berufliche Arbeit, seine kleinen Ärgernisse und großen Nöte, seine Gier und seine Grausamkeit, seine Ideale und Phantasien, sein Glück und sein Scheitern. Das Beispiel Shakespeare macht aber auch den Unterschied zwischen Literatur und Theater deutlich. Er schrieb nicht für Leser, sondern als Schauspieler für Schauspieler und ihr unmittelbares Publikum. Theater ist abhängig von der Stunde und dem Ort, an dem es gespielt wird. Es entfaltet seine Wirkung erst in der Beziehung zwischen dem lebendigen Spieler und dem unmittelbar gegenwärtigen Publikum. Damit unterscheidet es sich wesentlich vom Film, der es nur scheinbar konservieren kann, oder vom Fernsehen, das sich an keine konkrete Gemeinschaft mehr richtet. Das Theater kann alle Künste umfassen. Mit seinen Kulissen und Kostümen schließt es die Architektur und Malerei ein, es bedient sich der Musik oder dient ihr, und der Übergang von der Gestik zum Tanz ist fließend. Richard Wagner hat bekanntlich versucht, als Dichter und Komponist seiner Opern wieder ein »Gesamtkunstwerk« zu schaffen. Mit den Berufsschauspielern bildete sich ein neuer Stand. Sie sind gleichsam sozial eingeordnete Gaukler. Ihre Arbeit setzt eine große seelische Beweglichkeit voraus, eine vielfältige Einfühlsamkeit. Da sie so viele Rollen spielen müssen, sind sie auf keine Rolle festgelegt. So gelten sie auch als unzuverlässig. Deswegen waren sie meist ein wenig verachtet. Frauen durften sich während langer Zeiten auf der Bühne nicht zeigen, und als sie mitzuspielen begannen, schätzte man sie nicht viel höher ein als die Dirnen. Doch je besser das Theater sozial an gepaßt und geregelt wird, wie etwa im Staatstheater oder als gewinnträchtige Serienaufführung, desto eher verliert es den ursprünglichen Reiz. Die Anziehungskraft des Schauspielers stammt weitgehend aus den Rollen, die er verkörpert. Man sieht ihn als den Helden oder Schurken, den er doch nur ein paar Stunden lang spielt. Während manche Schauspieler so in die verschiedensten Rollen schlüpfen können, daß sie kein eigenes Wesen mehr zu haben scheinen, prägen andere jede Rolle im gleichen persönlichen Stil. Wieder andere verkörpern immer wieder denselben Typ. Sie identifizieren sich mit ihrer Rolle oder werden mit ihr identifiziert. Sie leben für ihr Publikum ein Muster –oder ein Ersatzleben. Die Bretter, auf denen sie agieren, sind aber nicht die Welt, sie »bedeuten« sie nur. Tiefenpsychologie begnügt sich nicht, wie der Behaviorismus, mit der Beobachtung des Verhaltens. Sie geht sogar über das hinaus, was die Menschen gemeinhin von sich selbst wissen und darüber sagen könnten. Sie will hinter die bewußten Motive schauen und so die tiefsten, die unbewußten Antriebe ermitteln. Daß es unbewußte seelische Vorgänge gibt, wurde wohl zuerst in den Erscheinungen der Hypnose deutlich. Aber auch die Eigentümlichkeiten des Traum-Geschehens wiesen darauf hin. In der Hypnose, im Traum, in den Fehlleistungen des Alltags, in den Symptomen der Hysterie brechen solche Vorgänge mehr oder weniger verstellt ins Bewußtsein durch. Das erkannte als erster Sigmund Freud. Er entwickelte Methoden, die ähnliche Druchbrüche erleichtern und die Entstellungen rückgängig machen können. Seine Psychoanalyse ist so in erster Linie eine Methode zur Erforschung des Unbewußten. Erst aus den Erfahrungen, die sie so erschloß, ergaben sich die Einsichten, die in eine tiefenpsychologische Theorie eingeordnet werden konnten. Doch aus den Ansätzen Freuds entwickelten sich Auffassungen, die mehr oder weniger von den seinen abweichen. Neue Schulen der Tiefenpsychologie wurden von einigen seiner unmittelbaren Schüler begründet. Während für Freud die Libido, das Verlangen nach Lust wie nach Liebe, entscheidend war, stellte Alfred Adler das Machtstreben in den Mittelpunkt seiner Lehre. Zugleich vernachlässigte er die Erforschung des Unbewußten sosehr, daß man seither vielfach bezweifelt hat, ob seine »Individualpsychologie« überhaupt noch zur Tiefenpsychologie gehört. Während Freud den Oedipus-Mythos als verkleidete Darstellung einer seelischen Wirklichkeit verstand, sah Carl Gustav Jung in den OedipusKonflikten der heutigen Menschen eine Wiederholung des mythischen Musters, einen »Archetypus«. Diese andere Auffassung hängt wesentlich mit einer anderen Forschungsmethode zusammen. Jung beschäftigte sich nicht mehr intensiv mit der individuellen Kindheitsgeschichte, son dern wandte sich den aktuellen Konflikten seines Patienten zu, die er in überpersönlichen Erfahrungen begründet sah, in einem »kollektiven Unbewußten«, das in der kulturellen Zugehörigkeit oder sogar in der Rasse wurzele. Es ist klar, daß man über die Bedeutung der Kindheit nichts sagen kann, wenn man sie nicht erforscht. Jungs Lehre erscheint vielen Leuten leichter annehmbar als Freuds Psychoanalyse, da in der »komplexen Psychologie« die höheren Werte, einschließlich der Religion, stärker betont werden als die ursprünglichen Antriebe, aus denen auch sie stammen. Ausdrücklich nach dem Sinn des Lebens fragt die »Logotherapie« von Viktor Frankl, der von Freud nur indirekt beeinflußt wurde. Freuds langjähriger Sekretär Otto Rank sah den prägenden Konflikt des menschlichen Seelenlebens nicht mehr in der Oedipus-Situation, sondern schon im Geburtstrauma, also eigentlich einer Erfahrung vor aller Erfahrung. Sandor Ferenczi änderte nur die Therapie, indem er sie aktivierte, vor allem die Übertragung verstärkte. Karen Horney, Erich Fromm und andere amerikanische Psychologen schufen eine »Neo-Psychoanalyse«, die stärker die spezifischen kulturellen Bedingungen bedenkt. Man nennt sie auch »NeoFreudianer«, aber sie könnten geradesogut »Neo-Adlerianer« heißen. So gibt es noch viele andere Vermischungen der unterschiedlichen Lehren miteinander. Recht typisch für diese eklektische Art der Tiefenpsy chologie war der deutsche Psychiater Johannes H. Schultz, der keine eigene Lehre formulierte, sondern eben aus allen Lehren nahm, was ihm dienlich erschien. Die therapeutischen Erfolge der einzelnen Schulen unterscheiden sich nur im Hinblick auf bestimmte Krankheiten, sind aber insgesamt etwa gleich groß, da sie alle letztlich auf der Übertragung beruhen. Als Forschungsmethode und mit Bezug auf die allgemeine Psychologie führt am weitesten immer noch die Psychoanalyse Freuds, der sich nie um angenehme Formulierungen bemühte und sich durch moralische Vorbehalte nicht daran hindern ließ, immer wieder nach der seelischen Wahrheit zu fragen.

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