Jugend als Entwicklungsabschnitt
Die Einteilung der Lebensspanne des Individuums in voneinander deutlich unterscheidbare Segmente wird von der Lebenspraxis in den unterschiedlichen Kulturen vorgegeben und hat biologische, kulturelle und gesellschaftliche Gründe. Stadien, wie die Kindheit, das Erwachsenenalter und das Greisenalter bedürfen keiner Existenzbegründung. Das Stadium der Jugend hingegen ist eine Übergangsetappe zwischen Kindheit und Erwachsenen-Lebensabschnitt mit biologischen Eintrittsmerkmalen, die von Kultur und Gesellschaft unabhängig zu sein scheinen. Die sog. Säkulare Akzeleration, d.h. die entwicklungsmäßige Beschleunigung des Eintritts von biologischen Reifungsmerkmalen bei jugendlichen Populationen, verglichen mit solchen früherer Zeiten (z.B. der Eintritt des Stimmbruchs bei den Regensburger Domspatzen in der Dekade 1960-70, verglichen mit der Dekade 1860-70; die Vorverlagerung der geschlechtlichen Reifung - Menarche - im 20. Jahrhundert, verglichen mit dem 19. Jahrhundert in den Industrienationen), ist im Kontrast zur sog. Säkularen Dezeleration zu diskutieren als von epochalen und geographischen Einflußgrößen abhängiges Phänomen.
Die Austritts-Zeit aus dem Entwicklungsabschnitt Jugend und deren Endmerkmale variieren beträchtlich und sind sozialer wie individueller Normierung unterworfen. Aus den 20er Jahren (von Ber) stammt die These von einer Jugend im kulturellen Sinne, worunter er die Jugend einer Partei, einer Kunstbewegung, der Revolution usf. versteht; die verlängerte Entwicklungszeit der Mitglieder dieser Bewegungen wird als "gestreckte Pubertät" bezeichnet. Polar dazu wurde in dieser Zeit (von Lazarsfeld) das Konzept von der "verkürzten Pubertät" des Proletariers, dem durch verfrühtes Eintreten in die Arbeitswelt ein Großteil seiner freien Entwicklung und Umwelterweiterungen verlorengeht. Die hier angedeutete Abhängigkeit der Beendigung des Jugendentwicklungs-Abschnitts von Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit weist auf die soziokulturelle Dimension der Definition von Jugend hin.
Der Oberbegriff für das transitorische Stadium zwischen endender Kindheit und beginnender Erwachsenenzeit ist Jugend; Pubertät bleibt den biologischen Aspekten des Jugendalters vorbehalten. Unter Adoleszenz wird das Entwicklungsprozessuale des Jugendalters in allen psychologischen Aspekten verstanden.
Pubertät und Transeszenz
1) Die Vorpubertät kennzeichnet das Auslaufen der physischen Kindheit über den ersten puberalen Wachstumsschub etwa im Alter von 10-12 Jahre, der bei Mädchen deutlich früher eintritt als bei Jungen (Tab. 1). Die veraltete sozialpsychologische Kennzeichnung dieser Phase als Flegeljahre, negative Phase, Auflehnungszeit ist aufgrund empirischer Befunde als kontinuierlicher Differenzierungsprozeß im Selbstkonzept mit Erfahrungsverarbeitung im sozialen Nahraum zu interpretieren, der relativ unabhängig von biologischen Prozessen abläuft.
2) Die Pubertät kennzeichnet den biologischen Entwicklungsabschnitt, in dem Auftreten, Wachstum und Akzentuierung der sekundären Geschlechtsmerkmale die weibliche und männliche Erscheinungsform des Jugendlichen bestimmen und den biologischen Erwachsenen ausbilden. Die Entwicklung der Reproduktionsorgane, z. B. Ovarien und Testes, die endokrinologischen Veränderungen, die Veränderung des Fettanteils zu Muskelgewebe, die wachsende Belastbarkeit von Atmungs-und Blutkreislauf zusammen mit den sich nach und nach ausbildenden sekundären Geschlechtsmerkmalen und das verglichen mit der Kindheit überproportionale Wachtum machen die Pubertät aus. Das Zusammenhangsmuster von Hormonen und ihren Eingriffsorganen (Schmitz & Stiksrud, 1994) gibt keine Hinweise über die "innere Uhr", die bspw. den Zeitpunkt der Menarche auszulösen in der Lage ist. Für die körperlichen Veränderungen spielen viele Hormone zusammen, insbesondere die Gonadotropine, die in der Reifezeit und später die Produktion von weiblichen (Östrogene) und männlichen Sexualhormonen (Androgene) stimulieren. Das sog. endokrine Geschlecht resultiert aus dem relativen Überwiegen der Androgen- bzw. Östrogenproduktion. Das Jugendalter ist ein besonders wichtiger Lebensabschnitt für die Auseinandersetzung mit der Geschlechterdifferenzierung, da die Aufmerksamkeit der Jugendlichen und ihrer sozialen Umwelten verstärkt auf die eigene und fremde weibliche und männliche Körperlichkeit infolge der sichtlichen Veränderungen der Pubertät gerichtet wird. Dabei wird auch kognitiv das andere Geschlecht zum potentiellen Sexualpartner und die geschlechtstypisch verteilten Rollen und Aufgaben des entwicklungsmäßig bevorstehenden Erwachsenenalters in Familie und Beruf rücken in zeitliche Nähe.
3) Unter Transeszenz (etwa vom 12. - 14. Lebensjahr) versteht man den Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz. Dieses von Eichhorn geprägte Übergangskonzept fokussiert vor allem auf die emotionalen, sozialen und kognitiven Veränderungen in dieser Alternszeit. Die zügige Veränderung der Körperlichkeit (erste Regelblutung, erste Pollution), die Veränderung der Beziehungen zur eigenen Leiblichkeit, die erhöhte Vulnerabilität, die sich in erhöhter Gewalttätigkeit und Devianzneigung (z.B. Drogen- und Nikotinabusus, Suizidalität; Sucht) bis zum 14. Lebensjahr abzeichnet, sowie die ersten Herausforderungen zur Entwicklungs-Selbstgestaltung (z.B. Schulpräferenzen, Berufswahlen) machen diese Entwicklungsphase zu einer Streß-Zeit.
Adoleszenz und junge Erwachsene
1) Die frühe Adoleszenz reicht etwa bis zum vollendeten 17. Lebensjahr. Der im juristischen Sinne Jugendliche mit vermehrten Rechten und Pflichten ist schulisch meist in die Varianten der Sekundarstufe I eingebunden, bzw. macht erste berufliche Lernerfahrungen als sog. Auszubildender. Eine immer noch nicht überholte Systematik der Entwicklungsaufgaben des Jugendlichen für die Entwicklungszeit vom 13. bis zum 18. Lebensjahr (von Havighurst aus dem Jahre 1953) trifft zwar die hier mit Adoleszenz bezeichnete Periode, einzelne Entwicklungsaufgaben sind allerdings phasentypisch auch in andere Entwicklungsabschnitte translozierbar.
2) Die späte Adoleszenz entspricht dem Terminus des "Heranwachsenden" und umfaßt die Entwicklungsspanne vom 18. bis zum vollendeten 20. Lebensjahr. Im deutschen Jugendstrafrecht können unter Hinzunahme psychologischer (Un-) Reifeargumente Taten als von einem noch Jugendlichen begangen entsprechend milder beurteilt werden. Die Entwicklungsaufgaben der Entwicklungsspanne vom 18. bis zum vollendeten 20. Lebensjahr sind nicht mehr so zukunftsgerichtet, wie die der frühen Adoleszenz. Ihr präsentischer Charakter hat Themen der Bewältigung im "hic et nunc", wie Wahl des Lebenspartners und Lebensorganisation mit ihm, Gründung einer Familie und Erziehung der Kinder, Management des Haushalts, Beruf, Verantwortlichkeit in der Gemeinde und "Finden einer kongenialen Gruppe". Das zentrale Thema der späten Adoleszenz ist der Status-Zugewinn als Erwachsener, dessen Rollen, Aufgaben und Verpflichtungen zunehmen und graduell anwachsend akzeptiert oder auch partiell abgelehnt werden können (Wehrdienst, Zivildienst, Heirat, Wahlmündigkeit, Abschluß der Lehre oder des Gymnasiums, Studienfach- und Studienortwahl, Geselle).
3) Die jungen Erwachsenen (21. - 25. Lj.) haben die Last (und Lust?) eines immer länger werdenden Ausbildungsweges zu tragen. Sie haben alle Rechte und Pflichten Erwachsener, nicht aber alle Möglichkeiten, da verlängerte Ausbildungs- und Qualifikationswege, die zu späterer beruflicher Selbständigkeit und Autonomie führen, oft mit einer unangemessen langen ökonomischen Abhängigkeit von Eltern und/oder staatlichen Geldgebern verknüpft sind. Die Aufnahme partnerschaftlicher und geschlechtlicher Verhältnisse ist nicht mehr mit der individuellen und sozialen Verpflichtung verbunden, für eine Familie aufzukommen. Die verwandtschaftliche und geschwisterliche Versorgungspflicht gegenüber den Eltern bzw. jüngeren Geschwistern besteht nur noch selten bzw. ist delegiert an staatliche Institutionen. Angesichts der Zuwanderung ganzer Sippen aus Gebieten und Völkern mit großfamiliären Stützungs- und Kontroll-Mechanismen werden Vor- und Nachteile zu früher bzw. zu später sozioökomischer Reife sichtlich.
4) Die Postadoleszenz kennzeichnet das Nachstadium von Adoleszenz und jugendlichem Erwachsenen: In ihm wird dem reifenden Individuum die Harmonisierung und Integrierung der Bestandteile seiner Persönlichkeit abverlangt. Dieser, aus neoanalytischer Ich-Psychologie stammenden Konzeption entspricht die Aktivierung der sozialen Rollen mit Werbung, Ehe, Elternschaft und Beruf. Die Findung und Begrenzung der Lebensziele sowie ihre Durchsetzung als Lebensaufgaben in der Form dauernder Bindungen, Rollen und Milieuwahlen sind die Hauptsorge der Spätadoleszenz. Neuere Verwendungen dieses Begriffs haben sich weit entfernt von dieser Reifungskonzeption, sie verzögern ein adoleszentes Lebensgefühl bis über das 30. Lebensjahr hinaus, assoziieren es mit studentischer Protest-Subkultur, oder nutzen es als konzeptuelles Sammelbecken für sog. freiwillige und unfreiwillige "Aussteiger" (Schmitz & Stiksrud, 1994).
Psychologische Theorien der Adoleszenz
Mit der speziellen Problemlagerung der Adoleszenz befaßt sich die Marginalitäts-Theorie von Lewin. Die emotionalen Turbulenzen (erhöhte Aggressivität und Sensitivität) sind Folge eines kognitiven Konfliktes zwischen dem Lebensraum der Kindheit und des Erwachsenen, der beschleunigten Bewegung von einem Stadium in das andere, der mangelnden kognitiven Strukturierung der Zielregion, in die hinein man sich entwickelt, der erhöhten Plastizität und Formbarkeit - aber auch Verführbarkeit (jugendlicher Radikalismus) infolge der Lageinstabilität zwischen den Bezugsgruppen (Stiksrud, 1994).
Coleman versucht mit der Fokal-Theorie der Adoleszenz wider die Katastrophentheorien des Jugendalters zu argumentieren. Die Jugendlichen der modernen Industrienationen meistern die normalen Probleme ihrer Altersgruppen nach und nach, sie nehmen ihre Probleme sukzessiv in den "focus" und sind demzufolge in der Lage, Bewältigungsressourcen über die Entwicklungsstrecke der gegenüber früher verlängerten Jugendzeit zu aktivieren (Ewert, 1983; Stiksrud, 1994).
Eine dritte Theoriegruppe zum Thema Identitätsentwicklung in der Adoleszenz (nach Erikson) löste sich ursprünglich aus psychoanalytischen Katastrophenszenarios und formulierte als zentrale Aufgabe des Jugendalters das Finden der eigenen Identität, die sich als zentraler Gefühlszustand gegen die dazu polare "Identitätsdiffusion" für einen Zustand psychischer Gesundheit durchzusetzen hat. Die positive Seite der normalen (nicht klinisch-psychopathologischen!) Konfliktlösung der Adoleszenzkrise wird ausgefüllt mit Finden einer Zeitperspektive, einer Selbstgewißheit, Experimentieren mit Rollen, Vertrauensfindung in die eigene Leistungsfähigkeit; geschlechtliche Identität, Führungs- und Ideologie-Polarisierung sind weitere Seiten der positiven Entwicklung (Ewert, 1983).
Die moderne, da mit Fragebogen und Selbstkonzept-Skalen operierende, Jugendpsychologie greift die alten Themen Eriksons auf und bringt sie in Entwicklungskontexte wie z.B.:
- Religiöse Entwicklung im Jugendalter (Religionspsychologie),
- Geschlechtskategorien im Jugendalter,
- Selbstkonzept und kognitive Fähigkeiten Hochbegabter (Hochbegabung),
(um nur einige empirisch bearbeitete Themen aus dem die deutsche Jugendpsychologie repräsentierenden Band von Schumann-Hengsteler & Trautner, 1996, anzuführen).
Relativ losgelöst von den biologisch determinierten Faktoren des Jugendalters ist die im Gefolge von Piaget und Ewert sich orientierende Forschung zu hypothetisch-deduktivem Denken (kognitive Entwicklung) zu sozial-moralischer Entwicklung (in Fortsetzung der Kohlberg-Ansätze; moralische Entwicklung) und zu adoleszenzspezifischem Wertewandel. Die Verzahnung biologischer und jugendpsychologischer Themen wird von soziobiologischen Richtungen vertreten (Soziobiologie). Mit der Soziologie gemeinsam hat die Jugendpsychologie das Problem der Generationsbeziehungen und Generationskonflikte. Der Psychopathologie des Jugendalters bleiben Themen wie Drogenabusus, nicht gelingende Formen der Ablösung vom Elternhaus und destruktive Tendenzen aufgegeben (Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Sucht).
Literatur
Schumann-Hengsteler, R. & Trautner, A. (Hrsg.).(1996). Entwicklung im Jugendalter. Göttingen: Hogrefe.
Schmitz, E. & Stiksrud, A. (1994). Erziehung, Entfaltung und Entwicklung. (2. Aufl.). Heidelberg: Asanger.
Stiksrud, A. (1994). Jugend im Generationen-Kontext. Sozial- und entwicklungspsychologische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Ewert, O. (1983). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Stuttgart: Kohlhammer.
Liepmann, D. & Stiksrud, A. (Hrsg.). (1985). Entwicklungsaufgaben und Bewältigungsprobleme in der Adoleszenz. Göttingen: Hogrefe.
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