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Psychologielexikon

Überarbeitete Ausgabe

Psychologielexikon

Pornographie

Autor
Autor:
Werner Eberlein

Pornographie ist eine Abart der Kunst mit dem Ziel, sexuelle Gefühle zu erregen. Mit den Mitteln der Literatur, der Bildenden Kunst, des Theaters oder des Films wird eine Erfüllung sexueller Wünsche dargestellt, die sich im wirklichen Leben des Durchschnittsmenschen nicht befriedigen lassen. Hier wird die Sexualität weitgehend aus dem übrigen Leben herausgetrennt. Die Grenzen der männlichen Potenz und der weiblichen Bereitschaft werden ebenso ignoriert wie die Gebote und Tabus der Moral. Es wird fern jeder erfahrbaren Realität ein Paradies der sexuellen Freiheit vorgegaukelt, in dem reine Sexualwesen leben ohne Charakter, ohne Bindung, ohne bürgerliche Pflichten. Mit den Wunschträumen, die so Gestalt gewinnen, wird ein Teil der Verzichte ausgeglichen, die uns die Kultur auferlegt hat. Das gilt ganz besonders für jene sexuellen Tendenzen, die in der Wirklichkeit am stärksten verpönt sind. Durch diese Ventil-Funktion hat die Pornographie einen sozialen Wert. Meist wird er nur anerkannt, wenn auch ihre Mittel einen künstlerischen Wert an sich haben. Dann liegt freilich eine Sublimierung vor, die von der eigentlich sexuellen Befriedigung wieder wegführt. Oft liegt der Reiz der Pornographie gerade darin, daß sie unverblümt darstellt, was sonst nur verbrämt oder sogar überhaupt nicht ausgedrückt werden darf. Dann unterscheidet sie sich von der Kunst so wie die Zote vom erotischen Witz.

Viele Pornographien sind Zeugnisse der seelischen Verfassung ihrer Autoren und speziellen Liebhaber. Sie spiegeln die Komplexe und Hemmungen, die das Triebleben auf eine besondere, enge Bahn gelenkt haben. In ihnen stehen hinter den Wünschen die geheimen Ängste, und die Lust bleibt der Scham und dem Ekel benachbart. Sie sind so voller Widersprüchlichkeiten, daß sie schon deshalb nicht realisiert werden könnten. Ihre Gefahr liegt darin, daß hier die Befriedigung so mühelos ist und ichbezogen bleibt. Sie steht jeder Partnerbeziehung entgegen, die ja nie nur den eigenen Vorstellungen folgen könnte. Die moderne Pornographie ist weniger individuell oder typmäßig geprägt. Sie gehorcht eher einem Massengeschmack und zeigt so, wie viele sexuelle Probleme weithin noch ungelöst sind, so daß eine Ausflucht in vorgeformte Phantasien geboten werden muß. In dem kulturbedingten Wandel der Pornographie ließe sich für die Soziologie und Sozialpsychologie manche Erkenntnis gewinnen. Darin spiegelt sich die Veränderung der realen Lebensverhältnisse zwischen Einengung und Erlaubnis.Darstellung sexuell anstößiger Szenen, wobei die Maßstäbe dessen, was für anstößig (obszön) gehalten wird, starken kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen unterliegen. Die früher verbreitete Ansicht, daß Männer weit mehr als Frauen durch Pornographie sexuell erregt werden, hat sich nicht bestätigt. Schädliche Auswirkungen pornographischer Darstellungen sind nicht nachgewiesen.

Vorgeschichte und Geschichte

Werkgestaltungen, die vom heutigen Betrachter als pornographisch eingestuft werden könnten, gibt es wohl seit den ersten Darstellungen des Menschen überhaupt. Figuren wie die sog. Venus von Willendorf (aus der Zeit 25.000 – 18.000 v.Chr.) betonen die Geschlechtsmerkmale; vorgeschichtliche Höhlenmalereien thematisieren Sexualität zwischen Tieren, zwischen Menschen – und sogar zwischen Menschen und Tieren. In der alten chinesischen, indischen und griechischen Kunst sind zahlreiche "gewagte" Sexualdarstellungen anzutreffen. Die Literatur jedoch bietet – soweit uns bekannt – Werke, die (heute) unter Pornographieverdacht geraten könnten, erst relativ spät (z.B. bei Sotades im 3. Jahrh. v.Chr.; noch später bei Ovid, Lukian etc.). Anstoß zu nehmen, kam im christlichen Abendland erst in der Mitte des 16. Jahrh. auf, als u.a. Boccaccios Dekameron – lange nach seiner Veröffentlichung – und Michelangelos Aktdarstellungen (im “Jüngsten Gericht”) die Toleranz überforderten. Unter den Päpsten Paul IV. und Pius IV. erstellte die katholische Kirche (1559) einen Index verbotener Bücher. Eine umfassende Geschichte der Pornographie und der zugehörigen Zensur ist noch nicht geschrieben worden. Sie hätte viele reizvolle Begebenheiten aufzuarbeiten und wäre eine Irrfahrt zwischen manchem Pro und Contra. Für die Neuzeit hat Ludwig Marcuse 1962 dazu die “Geschichte einer Entrüstung” vorgelegt. Sie behandelt Skandale um Romane von Friedrich Schlegel (Lucinde 1799) bis zu Henry Millers Werken. Nicht erörtert hat Marcuse die Eklats, die von Bildern hervorgerufen worden sind (z.B. 1863 Manet “Das Frühstück im Freien”). Sogar wissenschaftliche Veröffentlichungen wie die Kinsey-Reports (1948/1953) über das sexuelle Verhalten des Menschen haben Anstoß erregt: Laut Helmut Schelsky (1955) haben sie der Moral großen Schaden zugefügt. Gegenwärtig gibt es in Deutschland einen labilen “Waffenstillstand” zwischen den "klassischen" Produzenten erotischer Werke einerseits und den Kontrollinstanzen andererseits, die immer mehr als "freiwillige Selbstkontrollen" entstehen (z.B. FSK für Kinofilme, FSF fürs Fernsehen). Im Umgang mit den neuesten Medien herrscht jedoch Verunsicherung: Das Internet eröffnet Kommunikationsmöglichkeiten, die den Kontrollen immer eine Nasenlänge voraus zu sein scheinen (Medienpsychologie).

Begriffliches

Das Wort Pornographie ist aus den griechischen Wörtern für “Huren”/ ”Hurer” und “schreiben” zusammengesetzt. Daraus läßt sich keine Definition von Pornographie ableiten; eine solche kann es aber auch gar nicht geben, wohl aber Akzentuierungsversuche. Nur so viel ist sicher: Pornographie handelt von Sexualdarstellungen in Wort und Bild und hat (fast) immer die Konnotationen des Bösen, des Abgelehnten: "Gute Pornographie" ist ein Widerspruch in sich. So erhält man natürlich keine begriffliche Basis für Entscheidungen, wie sie der Gesetzgeber braucht, der nicht nur den Jugendschutz regeln, sondern auch einige Bereiche des Erwachsenenlebens kontrollieren will. Die deutsche Gesetzgebung vermeidet eine Umschreibung. Im zuständigen § 184 des StGB werden als pornographisch ausdrücklich solche Produkte verboten, “die Gewalttätigkeiten, den sexuellen Mißbrauch von Kindern oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben”. Relativ unklar bleibt, was darüber hinaus als "einfache" Pornographie gelten soll, die Jugendlichen nicht zugänglich gemacht werden darf (§ 184.1). Diese begriffliche Unschärfe kann aber positive Folgen haben, da sie es ermöglicht, gesellschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen; und trotz aller Unschärfe besteht im Akzent große Einigkeit darüber, was gerichtsrelevant ist und was nicht. Dabei berufen sich juristische Texte oft auf BGH-Urteile (z.B. das Fanny-Hill-Urteil 1969) und einen Sonderausschuß des Deutschen Bundestages (für die Strafrechtsreform 1973). Die dort gewählten Formulierungen sind aus psychologischer Sicht jedoch unannehmbar. Es heißt z.B., Pornographie liege vor, wenn der Mensch “zum bloßen auswechselbaren Objekt geschlechtlicher Begierde degradiert wird”, indem er auf ein “physiologisches Reiz-Reaktionswesen reduziert wird”. Es ist aber undenkbar, daß wache Menschen auf ein Reiz-Reaktionswesen reduziert werden können. Noch sinnloser ist das Kriterium, Pornographie liege vor, wenn Darstellungen “ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes beim Betrachter abzielen”. Denn Reize werden nicht erregt; wohl aber können (erotische) Reize zu (sexuellen) Erregungen führen. Es ist dringend nötig, daß sich die Diskussion um Pornographie von solchen juristischen Fehlleistungen befreit. Dabei erscheint es aber aussichtslos, dem Wort Pornographie eine neutrale Bedeutung geben zu wollen. Man sollte es daher für jene Fälle reservieren, in denen man Negativurteile zum Ausdruck bringen will. Dann braucht man aber auf der anderen Seite einen Begriff für die neutral oder positiv beurteilten Darstellungen. Als Namen bieten sich “Erotika” oder Erotographie an (Eros = griech. Gott der Liebe; geschlechtliche Liebe überhaupt).

Theorien über Pornographie und ihre Wirkungen

Trotz des langen und heftigen Streits über Pornographie ist die Theoriebildung noch relativ wenig entwickelt, da der Streit meist außerhalb der Wissenschaften geführt worden ist. Aber auch die großen amerikanischen Pornographie-Reports blieben trotz Mitarbeit von Sozialwissenschaftlern recht theoriearm. So kam der erste Bericht (1970), der allenfalls eine Spielwiese sanfter Erotika berücksichtigte, zu einem Freispruch der Pornographie; der zweite (1986), der u.a. Kinder-Pornographie beachtete, kam eher zu einer Verdammung der Pornographie, ohne daß dies jeweils theoretisch genügend begründet wurde.

Es gibt drei weite und relativ viele enge theoretische Ansätze, die für die Pornographie relevant sind: "Weit" sind die sozial-kognitive Lerntheorie, der feministische und der evolutionspsychologische Ansatz (Kalma & Gijs). Nur die beiden letztgenannten stellen die Frage, warum Menschen Pornographie schaffen und konsumieren. In evolutionspsychologischer Sicht gilt der Grundsatz vom Eigennutz der Gene: Verhalten von Lebewesen kann am besten so erklärt werden, daß es primär den Fortbestand ihrer eigenen Gene sichern soll (nicht den Fortbestand der Art). Dazu ist Sexualität nötig und betontes sexuelles Interesse förderlich – auch wenn es durch erotische Darstellungen geweckt wird, ja sogar, wenn es mit Gewalt einhergeht. Männliche Sexualität erstrebt den raschen, häufigen Sex mit wechselnden Partnerinnen; weibliche Sexualität– zugunsten des Nachwuchses – die dauerhafte Bindung. Frauen beachten entsprechende komplexe Hinweise, die sich eher in länger dauernden Partnerschaften zeigen; Männer beachten visuelle Hinweise auf Jugend und Gesundheit. Diese biologistische Sicht beachtet aber oft die kulturelle Formung des Menschen zu wenig.

Der feministische Ansatz läßt sich auf die knappe Formel bringen: Pornographie ist die Theorie und Vergewaltigung ist die Praxis; die Sexualität steht im Dienst der männlichen Dominanz (Feministische Psychologie).

Mit Hilfe der sozial-kognitiven Lerntheorie (Bandura) kann man viele Phänomene im Bereich von Pornographie und Erotographie erklären. Sexualdarstellungen geben Modelle ab, die den eher Unwissenden belehren und somit Lernprozesse bei ihm bewirken können (Lernen durch Beobachtung); das Gelernte muß aber nicht unbedingt umgesetzt werden. Alle, die aufmerksam eine Gewaltverherrlichung in einem Film sehen, speichern dies; aber nur wenige werden irgendwann das Gelernte imitieren. Modelle können Verhalten auch hemmen und enthemmen: Bestraftes Modellverhalten wird eher gehemmt, belohntes eher enthemmt; und manchmal können Modelle ein Verhalten direkt auslösen.

Für die Pornographie-Diskussion ist auch die "enge" Erregungs-Transfer-Theorie von Zillmann wichtig. Sie geht davon aus, daß eine (Rest)Erregung aus einer Situation in eine folgende Situation transferiert werden kann: Eine fortbestehende sexuelle Erregung aus der Situation A kann dann in der Situation B z.B. eine aggressive Tendenz erhöhen und umgekehrt. Aber auch sehr “harmlos” (z.B. durch Komik, Sport) entstandene Erregungen können in der folgenden Situation gleich welchen Inhalts – die Erregung erhöhen. Relevant sind solche Gedanken u.a. dann, wenn nach einem Pornographie-Konsum bald eine aggressive Situation eintritt.

Nach Sapolsky kann man davon ausgehen, daß eine unangenehme (sexuelle) Stimulierung eher einen Anstieg, eine schwache, aber angenehme (sexuelle) Stimulierung eher eine Abnahme von Aggressionen nach sich zieht.

Befunde

Die Lage ist nicht so klar, wie man es sich wünschen mag. Wahrscheinlich hängt Sexualkriminalität nicht nachweislich von Pornographie ab. Donnerstein et al. vertreten die Überzeugung, daß es nicht die sexuellen Anteile der Pornographie sind, die zu unerwünschten Effekten (z.B. negativere Einstellungen zum anderen Geschlecht) führen, sondern die Gewaltanteile, wobei die Gewalt aber in subtiler Form – z.B. als Degradierung – gegeben sein kann. Degradierend ist es schon, wenn Frauen in der Pornographie ständig sexuell zur Verfügung stehen. Metaanalysen lassen den Schluß zu, daß Darstellungen, die Sexualität und Gewalt verquicken, ein Risiko beinhalten: Sie machen Einstellungen negativer; diese beeinflussen das Verhalten. Viele Variablen intervenieren dabei, z.B. Geschlecht, Alter und verschiedene Persönlichkeitsmerkmale. So suchen Jugendliche in Pornographie und Erotographie mehr die Information über Sexualität, ältere Menschen mehr die Erregung. Zur Reflexivität erzogene Jugendliche aus Familien mit klaren moralischen Standpunkten lassen sich weniger von Gewalt beeinflussen als solche, denen Gewalt in der eigenen Familie vorgelebt wird (sog. "doppelte Dosis").

Es gibt keine Theorie, die alle Phänomene befriedigend erklären kann. Die empirisch überprüften und teilweise bestätigten Theorien dürfen nicht als widersprüchlich verstanden werden, vielmehr ergänzen sie einander.

Während Pornographie negative Effekte haben kann, sind bei Erothographie auch positive Effekte möglich: wenn sie z.B. in der Sexualaufklärung oder in der Sexualtherapie eingesetzt wird. Insofern spricht viel für die Trennung von Pornographie und Erotographie im vorgeschlagenen Sinne.

Bilder sind oft Ab-Bilder; immer aber sind sie Vor-Bilder. Offensichtlich bringt jedes neue Medium eine Zunahme im Angebot sexueller Darstellungen. Derzeit sind vor allem Privates Fernsehen und das Internet zu nennen. Nach der psychologischen Wirkungsforschung stehen überwiegend Gewaltmerkmale von Sexualdarstellungen im Verdacht, zu unerwünschten Effekten zu führen. Hier sollte man also sensibler sein als bislang: Nicht nur brutale physische Aggressionen verdienen unser Mißtrauen, sondern auch subtilere Formen der Degradierung (z.B. schlichte Unterordnung von willfährigen Frauen unter Männer). Darin, daß sog. Kinder-Pornographie nicht toleriert werden kann, sind sich alle einig.

Wenn die Begrifflichkeit ausdifferenziert würde und deutliche Sexdarstellungen nicht mehr automatisch in Pornographieverdacht gerieten, könnte der manchmal heftige Streit zwischen "Freiheit der Kunst" und "Kontrolle/Zensur" etwas entschärft werden.

Im übrigen muß die Antwort auf die Risiken, die Pornographie mit sich bringt, weniger in Verboten als in offener Aufklärung aller Menschen über diese Risiken bestehen.

Literatur

Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta.

Donnerstein, E., Linz, D. & Penrod, S. (1987). The Question of Pornography. New York: The Free Press.

Kalma, A. & Gijs, L. (1998). Psycho-social effects of exposure to sexually explicit materials of adult heterosexual activity. Unpubl. paper. Utrecht.

Marcuse, L. (1962). Obszön. Geschichte einer Entrüstung. München: List.

Sapolsky, B.S. (1984). Arousal, affect and the aggression-moderating effect of erotica. In: Malamuth, N.M. & Donnerstein, E. (Eds.), Pornography and sexual aggression. Orlando: Academic Press.

Selg, H. (1997). Pornographie und Erotographie. tv discurs, April, 48-51.

Zillmann, D. (1971). Excitation transfer in communication-mediated aggressive behavior. J. Exp. Soc. Psychol., 7, 419-434.

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