Anwendung psychologischer Forschungsmethoden und ihrer Ergebnisse auf politische Fragestellungen. Beispiele sind: 1. Motiv-Forschung, um die Ursachen für bestimmte Entscheidungen (von Wählern, von Politikern) aufzuklären. 2. Persönlichkeitsbezogene Forschung, etwa nach einer typischen Persönlichkeit, die faschistische Systeme unterstützt (autoritäre Persönlichkeit). 3. Einstellungsbezogene Forschung, in der die Zusammenhänge bestimmter Vorurteile mit sozialen (Rasse, Herkunft, Klassenzugehörigkeit, Ausbildung, Einkommen...) und psychologischen (Art der Eltern-beziehung) Merkmalen geklärt werden. 4. Erforschung von den Ursachen aggressiven Verhaltens von Einzelpersonen und Gruppen (Aggression) im Rahmen der Konflikt- und Friedensforschung. Hier wird der Begriff der «strukturellen Gewalt», das heißt der meistens in krassen Besitzunterschieden wurzelnden sozialen Ungerechtigkeit und damit Instabilität, in letzter Zeit immer bedeutsamer. 5. Forschung nach «Führungsstilen» in Gruppen. 6. Psychoanalytisches Studium der Lebensgeschichte von Politikern und Klärung der unbewußten Hintergründe ihrer Entscheidungen. Politische Psychologie ist häufig selbst ein Gegenstand oder eine Folge politischer Auseinandersetzung. Die in manchen sowjetischen Psychologie-Lehrbüchern stehenden Beschreibungen des Charakters der Sowjetmenschen zeigen den Zusammenhang zwischen Politik und Psychologie deutlich. Aber auch die scheinbar «wertfreie» psychologische Forschung des Westens hat ihre politische Bedeutung; in ihr steckt eine geheime Ideologie. Erste Ansätze zu einer Klärung enthält hier K. Holzkamps Unterscheidung zwischen der «technischen» und der «emanzipatorischen» Bedeutung der Ergebnisse psychologischer Forschung. Technisch bedeutsam sind Ergebnisse der psychologischen Forschung, wenn sich mit ihrer Hilfe besondere Fragen der Industriegesellschaft besser bewältigen lassen (wie Erkennen von Berufseignung, Herausfinden psychologischer Beeinflussungsmöglichkeiten in der Werbung). Emanzipatorisch bedeutsam sind hingegen Ergebnisse, die zeigen, auf welchen Wegen zum Beispiel reformfeindliche Einstellungen überwunden werden können.
Der Gegenstand und seine Probleme
Politische Psychologie beschäftigt sich mit der Interaktion von subjektiven Orientierungen, Motivationen und Verhaltensbereitschaften einerseits und Machtausübung und Herrschaft andererseits, vermittelt durch Inter-und Intragruppenprozesse. Da aber alles Handeln in gesellschaftliche und politische Bezüge eingebettet abläuft, ist ein solcher Gegenstandsbereich schwer abzugrenzen: Fast jedes Erleben und Verhalten hat Bezüge zu Politischer Psychologie. Um den Gegenstand der Politischen Psychologie einzugrenzen, wird folgendermaßen vorgegangen. 1) Einbezug von jeweils vorherrschenden politischen Fragestellungen: Politische Psychologie ist regierungsbezogen (gouvernemental), Forschungsfragen und Kategorien werden den politischen Alltagsdiskursen entnommen. Die Politische Psychologie greift eine Fülle von Themen auf, die zudem theoretisch oft wenig integriert sind, und läßt sie wieder fallen, wenn sie nicht mehr aktuell sind. 2) Politische Psychologie als integrative Sozialwissenschaft: Politische Psychologie tritt mit dem Anspruch auf, unter gleichzeitiger und zugleich wechselwirkungs-gerichteter Berücksichtigung der sozialwissenschaftlichen Trias: subjektiv-individuelle, sozial-gesellschaftliche und gesellschafts-politische Betrachtungsebene, mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln der Sozialwissenschaften die für politische Geschehensabläufe bestimmenden menschlichen Bedürfnisse und Verhaltensweisen zu erforschen, um damit Erkenntnismittel bereitzustellen, die für die Erlangung menschlicher Selbstverwirklichung hilfreich sein können. Sie ist pluralistisch im Sinne des Umgreifens verschiedener, jeweils in sich möglichst geschlossener, konkurrierender erkenntnistheoretischer Ansätze (Moser, 1979, S. 49). Diese Strategie erfordert einen großen konzeptuellen und methodischen Aufwand. 3) Wahl einer Gesellschaftstheorie als Ausgangspunkt und Anreichern mit psychologischen Konzepten, Befunden und Methoden: So verfahren die Kritische Theorie des Subjekts, die in der Tradition der Frankfurter Schule Gesellschaftskritik und Psychoanalyse zu verbinden sucht, und die Kritische Psychologie. Von vornherein werden dadurch Grundkonzeptionen in Kauf genommen, die für andere Forscher oft wenig überzeugend sind. Das Gros der mittlerweile unübersehbaren Veröffentlichungen zur Politischen Psychologie folgt der ersten Gegenstandsbestimmung. Dabei dominieren die nach naturwissenschaftlichen Vorbildern entwickelten empirisch-experimentell-statistischen Sichtweisen, denen die theoretische Verknüpfung auch nach Eingeständnis der amerikanischen einschlägigen Standardwerke (Knutson 1973; Herman 1986) schwerfällt. Die unter der dritten Strategie arbeitenden Forscher haben zumeist eigene Kommunikationskontexte aufgebaut. Somit bietet Politische Psychologie heute ein fragmentiertes Bild: Sie hat viele Foren, aber keinen Einheitsrahmen (Moser, 1998).
Forschungsgebiete
Auch die Themenvielfalt ist enorm Ausbildung von Folterern, politische Sozialisation, Wertewandel, Umweltbewußtsein, Gewaltbereitschaft (Gewalt), Führung, kollektive Identitäten, politische Traumatisierung, Verwaltungsreform, Mediation, Propaganda, Soziale Repräsentationen, Medienwirkungen (Hermann 1986; Knutson 1973; Zeitschrift für Politische Psychologie ab Jg. 1, 1993).
Die Suche nach Universalien der menschlichen Natur gehört zu den frühesten Gebieten der Politischen Psychologie und hat sich bis heute gehalten (Politische Anthropologie).
Seit dem frühen 20sten Jahrhundert war die Massenpsychologie die einflußreichste sozialpsychologische Richtung: In Massen würden Menschen durch emotionale Ansteckung irrational, hysterisch und führungsbedürftig (Kollektives Verhalten).
Lasswell (1951; erstmals 1930) schuf eine Psychopathologie der Politik-Aktivisten. Er unterschied Agitatoren-, Administratoren- und Theoretiker-Typ und erklärte politische Bewegungen durch kollektiv gleichgeartete Projektionen der Mitglieder. Zentrale Bedeutung haben in diesem Feld bis heute die Forschungen über den Autoritären Charakter (Adorno u.a.; Fromm; u.a.m.; Autoritäte Persönlichkeit).
Politische Biographie: Beginnend mit den entwicklungspsychologischen Studien Eriksons zu Luther und Gandhi haben historische Persönlichkeiten immer wieder im Zentrum von Psycho-Biographien gestanden herausragend häufig: Adolf Hitler. Die Diagnosen divergieren stark: Ursachen für Hitlers politische Verbrecherlaufbahn werden jeweils in einer starken Mutter, einem terroristischen Vater, einem nekrophilen Charakter oder eigenen Mißbrauchserfahrungen Hitlers gesehen. Ein methodisch ungelöstes Problem ist auch hier die inhärente Personalisierung und Psychologisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Politische Orientierungen: Alte soziale Bindungen lösen sich auf; dadurch entstehen neue, individuell aushandlungsfähige Entwicklungs- und Verhaltensspielräume. Dieser Thematik der Soziologie (Individualisierungsthese) ging auch die Politische Psychologie nach.
Politische Kommunikation und Partizipation: Politische Teilnahme und Apathie entstehen in Sozialisationskreisläufen. Mit dem Bildungsniveau der Bevölkerung wächst seit Jahren das Gefühl persönlicher politischer Kompetenz bei gleichzeitigem Enttäuschtsein von politischen Eliten und Gremien. Zur Politik(er)verdrossenheit beigetragen haben vermutlich die Skandalfolgen seit den 80er Jahren und Verteidigungsreaktionen der ertappten Politiker: erst Leugnen, dann möglichst Umdeuten, dann persönliche Verantwortung bestreiten, schließlich die eigene Schuld abstreiten, da man nicht anders habe handeln können, um damit die negativen Sanktionen zu unterlaufen.
Arbeitslosigkeit trägt zu politischer Apathie bei. Der schmerzhafte Kontrollverlust schwächt das Selbstwirksamkeitsgefühl und löst eine Distanzierung von der Politik aus. Individuelle Bewältigungsversuche fördern internal-individuelle Ursachen-Attributionen. Politisches Handeln würde auch eine positive Identifikation mit der Arbeitslosen-Rolle voraussetzen; das aber blockiert der Diskurs der Massenmedien, wo Arbeitslosigkeit individualisiert, d.h. als Problem einzelner, als unausweichliches Schicksal und als Folge persönlicher Defizite, geschildert wird.
Terrorismus: Die ersten Studien suchten in der Biographie von Terroristen nach Faktoren personaler Devianz (Persönlichkeit der Mutter, Beruf des Vater o.ä.). Da solche nicht zuverlässig wirkten, wird Terrorismus heute als Ergebnis eines bewußt-lernenden Interaktionsprozesses zwischen Gesellschaft, sich radikalisierender Minderheit und Staatsorganen aufgefaßt, wobei auf allen Seiten Mißtrauen, Verengungen der Wahrnehmungsmuster, Gewaltbereitschaft und Empathieunfähigkeit eskalieren (vgl. Moser, 1981).
Fremdenfeindlichkeit: Zur Erklärung ethnischer Ausgrenzung werden verschiedene Ansätze herangezogen: 1) die sozialpsychologische Theorie Sozialer Identität. 2) die Theorie vom Autoritären Charakter (Autoritäre Persönlichkeit): Unter dem sozialisatorischen Einfluß eines willkürlich-übermächtigen Vaters bilde sich durch Identifikation mit dem Aggressor sowie Projektion und Abspaltung verbotener Triebregungen ein Persönlichkeitssyndrom mit den Merkmalen: konventionelle Mittelstandswerte, autoritär-unkritische Unterwürfigkeit, autoritäre Aggression gegen abweichende Minderheiten, Abwehr von Phantasie, Einfühlung und allem Fremden, Stereotypie, Rigidität, Machtdenken und Zynismus sowie sexuelle Verdrängungen und Projektionen (F-Skala). Die Wirksamkeit dieses Syndroms ist bis heute durch breite Empirie belegt, wobei über die genaue Form, Tiefe und Ursache Dissens besteht. a) Das Syndrom wird als Reaktion auf allgemeine soziale Verunsicherung gesehen. b) Im Dogmatismus-Konzept wird das Links- und Rechtsextreme gleichermaßen als Feinde der Open-Mindedness abbildet. c) Andere Untersuchungen verfolgen den Übergang von einem innen- zu einem außengeleiteten Sozialcharakter: Verhalten werde nicht mehr durch verinnerlichte Werte des starken Über-Ich etwa einer protestantischen Ethik gelenkt, sondern immer mehr über die Antizipation von Markt- und Gruppenerwartungen, durch Konformismus. 3) die Desintegrations-Theorie: Soziale Desintegration (Heitmeyer) zerstöre im Gefolge der Individualisierung den soziokulturellen Wert traditioneller biographischer Pläne, Bildungsabschlüsse und Gruppenzugehörigkeiten und vermittele durch verschärfte wirtschaftliche Konkurrenz Erfahrungen von Ohnmacht, Vereinsamung und Entsolidarisierung, die die rechtsextreme Clique durch eine Ideologie der Zugehörigkeit, Machterfahrungen und soziale Unterstützung kompensiere. 4) die Theorie vom Neuen Sozialisationstypus (Bielicki): Die Gewaltbereitschaft tragende Generation weise infolge einer mutterzentrierten, unstrukturierten familialen Sozialisation besonders häufig den narzißtisch gestörten neuen Sozialisationstypus auf, der ein fragmentiertes Körperbild durch Gewalt stabilisiere und in der Gruppe symbiotische Verschmelzungswünsche auslebe. 5) Theorie der Dominanzkultur (Rommelspacher): Schließlich seien Erfolg und Überlegenheit auch der Leitwert der gesamtgesellschaftlichen Dominanzkultur, die Ausgrenzung legitimiere und einübe und von Gewalttätern nur besonders offen realisiert werde. 6) Kulturelle Unterströmung: Als solche betrachtet die Forschung den durch Demoskopie und Interviewstudien in Deutschland noch immer nachweisbaren Antisemitismus, der zumeist tabuisiert zu Fremdenfeindlichkeit beiträgt, aber von ihr weitgehend unabhängig existiert.
Internationale und interkulturelle Verständigung: Klassische Feindbilder wie die religiös überhöhten Vorstellungen vom kommunistischen Reich des Bösen, in der amerikanischen Außenpolitik seit den 50er Jahren nachgewiesen, scheinen nach dem Aufbrechen der globalen Bipolarität rückläufig. Sie zeichneten spiegelbildlich die gegnerischen politischen Eliten als Diener eines aggressiven Systems und die Massen als seine verführten Opfer und erwiesen sich infolge selektiver Wahrnehmung als äußerst resistent gegen Tatsachen. Die Forschung über transkulturelle Begegnungen (bes. Jugendaustausch) zeigt, daß Kontakthäufigkeit und -dauer auch keineswegs notwendig zu besserem Verstehen führen, sondern zugleich auch zu Differenzerfahrungen, deren Tiefe und Wirkung auf Einstellungen von Art und Feld des Kontaktes abhängt (Vorurteile). Empfehlung zum Management bei Klein- und Großgruppenkonflikten: Soziale Beziehungen wirken als selbstverstärkende Schleifen; Mißtrauen, Ablehnung, Mißverstehen, Kommunikationsrückgang, Drohungen und Aggression wirken ebenso selbstherstellend wie andererseits Vertrauen, Vorleistungen, Bemühungen um Fairness und Verständigung.
Perspektiven
Infolge wachsender gesellschaftlicher wie institutioneller Komplexität und Steuerungsprobleme ist für Politische Psychologie wachsende Nachfrage zu erwarten. Politische Psychologie trägt dadurch zu Berufsfelderschließung, Methodeninnovation und theoretischer Perspektivenweiterung bei und gewinnt zunehmende Akzeptanz als informelles kleines Anwendungsfach der Psychologie. Die potentiellen Beiträge der Politische Psychologie zur Professionalisierung des Gesamtfaches sind daher noch lange nicht ausgeschöpft.
Literatur
Dollase, R., Kliche, Th. & Moser, H. (Hrsg.) (1999). Politische Psychologie der Fremdenfeindlichkeit. Opfer Täter Mittäter. Weinheim: Juventa.
Hermann, M. G. (Hrsg.) (1986). Political Psychology. Contemporary Problems and Issues. San Francisco, London: Jossey-Bass.
Knutson, J. N. (Hrsg.) (1973). Handbook of Political Psychology. San Francisco: Jossey-Bass.
Moser, H. (1979). Ansätze und inhaltliche Struktur einer Politischen Psychologie. In: H. Moser, (Hrsg.), Politische Psychologie. Politik im Spiegel der Sozialwissenschaften. Weinheim: Beltz, 19-52.
Moser, H. (Hrsg.) (1981). Fortschritte der Politischen Psychologie. Band I. Weinheim Basel: Beltz.
Moser, H. (1998). Politische Psychologie. In S. Grubitzsch & K. Weber (Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt, 426-429.
Siehe auch autoritäre Persönlichkeit, Emanzipation.
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